Wenn der Hersteller eine Verwendung des Gegenstands für medizinische Zwecke ausschließt, liegt kein Medizinprodukt vor

Ein Gegenstand, der von seinem Hersteller zur Anwendung für Menschen zum Zwecke der Untersuchung eines physiologischen Vorgangs konzipiert wurde, fällt dann nicht unter den Begriff „Medizinprodukt“, wenn der Hersteller eine Verwendung des Gegenstands für medizinische Zwecke mit hinreichender Deutlichkeit ausschließt, ohne dabei willkürlich zu handeln.

BGH URTEIL I ZR 53/09 vom 18. April 2013 – Messgerät II

Richtlinie 93/42/EWG Art. 1 Abs. 2 Buchst. a 3. Spiegelstrich; MPG § 3 Nr. 1 Buchst. c

Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhand-lung vom 18. April 2013 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Dr. h.c. Bornkamm und die Richter Pokrant, Prof. Dr. Schaffert, Dr. Kirchhoff und Dr. Koch
für Recht erkannt:
Die Revision gegen das Urteil des Hanseatischen Oberlandesge-richts Hamburg, 3. Zivilsenat, vom 26. Februar 2009 wird auf Kos-ten der Klägerin zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Beklagte zu 1, eine Gesellschaft niederländischen Rechts, deren ver-tretungsberechtigte Gesellschafter die Beklagten zu 2 bis 4 sind (im Weiteren: die Beklagte), bietet unter anderem elektrotechnische Anlagen und Geräte an.
Die Klägerin, die Hard- und Software für Medizintechnik herstellt und ver-treibt, wendet sich mit ihrer auf Unterlassung, Auskunft und Feststellung der Schadensersatzpflicht gerichteten Klage gegen den Vertrieb des Systems „ActiveTwo“ der Beklagten, das bioelektrische Daten messen und aufzeichnen kann, und gegen die von der Beklagten dafür in Deutschland betriebene Wer-bung. Sie macht geltend, für das System der Beklagten bestehe weder in den Niederlanden noch in Deutschland eine CE-Zertifizierung für Medizinprodukte. Die Beklagten handelten daher unter dem Gesichtspunkt des Rechtsbruchs so-wie wegen der von ihrer Werbung ausgehenden Irreführung wettbewerbswidrig.
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Die Beklagten machen demgegenüber geltend, das System „ActiveTwo“ weise nach der insoweit maßgeblichen Bestimmung der Beklagten als der Her-stellerin keine für seine Einordnung als Medizinprodukt erforderliche Zweckbe-stimmung auf. Ebenso wenig führe der Umstand, dass dieses System zu einem Diagnosegerät umgebaut werden könne, zu seiner Einordnung als Medizinpro-dukt. Eine Einschränkung der Tätigkeit der Beklagten durch deutsches Wettbe-werbsrecht verstieße zudem gegen den Grundsatz des freien Warenverkehrs, weil auch die zuständige niederländische Gesundheitsbehörde der Ansicht sei, dass die Beklagte ihr System nicht zertifizieren zu lassen brauche.
Beide Vorinstanzen haben die Klage als unbegründet angesehen. Mit ih-rer vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre in den Vor-instanzen erfolglosen Klageanträge weiter.
Mit Beschluss vom 7. April 2011 hat der Senat dem Gerichtshof der Eu-ropäischen Union folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt (BGH, GRUR 2011, 544 = WRP 2011, 902 – Messgerät):
Stellt ein Gegenstand, der vom Hersteller zur Anwendung für Menschen zum Zwecke der Untersuchung eines physiologischen Vorgangs bestimmt ist, nur dann ein Medizinprodukt im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a 3. Spiegelstrich der Richtlinie 93/42/EWG dar, wenn er auf einen medizinischen Zweck ausge-richtet ist?
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat diese Frage wie folgt beant-wortet (EuGH, Urteil vom 22. November 2012 – C219/11, GRUR 2013, 82 – Brain Products):
Art. 1 Abs. 2 Buchst. a 3. Gedankenstrich der Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte in der durch die Richtlinie 2007/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. September 2007 geänder-ten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein Gegenstand, der von seinem Her-steller zur Anwendung für Menschen zum Zwecke der Untersuchung eines phy-siologischen Vorgangs konzipiert wurde, nur dann unter den Begriff „Medizin-produkt“ fällt, wenn der Gegenstand für einen medizinischen Zweck bestimmt ist.
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Entscheidungsgründe:
I. Das Berufungsgericht hat die Klageansprüche verneint und hierzu aus-geführt:
Das System „ActiveTwo“ der Beklagten sei kein Medizinprodukt im Sinne von § 3 Nr. 1 MPG, der Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42/EWG in das deutsche Recht umsetze. Das System erfülle zwar alle Merkmale des dem Art. 1 Abs. 2 Buchst. a 3. Gedankenstrich der Richtlinie entsprechenden § 3 Nr. 1 Buchst. c MPG, nicht aber das aus dem Sinn und Zweck und der Entstehungs-geschichte dieser Bestimmung sowie aus der Richtlinie abzuleitende zusätzliche ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Ausrichtung auf einen medizinischen Zweck. Die Beklagte habe ein derartiges Anwendungsgebiet für den Verkehr unmissverständlich ausgeschlossen. Sie sei deshalb auch nicht verpflichtet, ihre Geräte einer klinischen Prüfung zu unterziehen. Angesichts der unmissverständ-lichen Hinweise im Internetauftritt der Beklagten sei eine Irreführung über den durch diese bestimmten Einsatzbereich ebenso ausgeschlossen wie eine Irre-führung darüber, dass die Geräte möglicherweise für einen außerhalb des Ver-tragszwecks liegenden Einsatzbereich verwendbar seien. Da keine Rechtsver-letzung vorliege, könne dahinstehen, ob ein Vertriebsverbot angesichts der Stel-lungnahme der zuständigen niederländischen Behörde zusätzlich aus dem Ge-sichtspunkt des freien Warenverkehrs ausscheide.
II. Die gegen diese Beurteilung gerichtete Revision der Klägerin hat kei-nen Erfolg. Das Berufungsgericht hat mit Recht angenommen, dass das System „ActiveTwo“ der Beklagten ungeachtet dessen, dass es alle Merkmale des § 3 Nr. 1 Buchst. c MPG erfüllt, kein Medizinprodukt im Sinne von § 3 Nr. 1 MPG ist, weil die Beklagte seine Verwendung für einen medizinischen Zweck unmissver-ständlich ausgeschlossen hat.
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1. Wie der Gerichtshof der Europäischen Union auf den Vorlagebeschluss des Senats hin entschieden hat, fällt ein Gegenstand, der von seinem Hersteller zur Anwendung für Menschen zum Zwecke der Untersuchung eines physiologi-schen Vorgangs konzipiert wurde, nur dann unter den Begriff „Medizinprodukt“, wenn der Gegenstand für einen medizinischen Zweck bestimmt ist.
2. Im Streitfall fehlt es an einer solchen Bestimmung zu einem medizini-schen Zweck. Der Umstand, dass das fragliche Produkt nicht für medizinische Zwecke bestimmt ist, ergibt sich aus der Kennzeichnung, der Gebrauchsanwei-sung sowie der Bewerbung des Systems „ActiveTwo“, die eine Verwendung für medizinische Zwecke mit hinreichender Deutlichkeit ausschließen. Diese Ein-schränkung des Zwecks stellt sich auch nicht als willkürlich dar.
Die Revision räumt ein, dass es für die Beurteilung, ob ein Produkt – wie für die Einordnung als Medizinprodukt erforderlich – einem medizinischen Zweck dient, auf die subjektive Bestimmung des Herstellers ankommt, wie sie sich aus den Angaben ergibt, die der angesprochene Verkehr der Kennzeichnung, der Gebrauchsanweisung oder der Werbung entnimmt. Die maßgebliche subjektive Zweckbestimmung schließt es mit ein, dass auch einem Gegenstand, der objek-tiv zur Erfüllung medizinischer Zwecke geeignet ist, aufgrund entsprechender Hinweise des Herstellers die Bestimmung zu einem medizinischen Zweck fehlt. Solange die Zweckbestimmung nach dem Verständnis des angesprochenen Verkehrs eindeutig ist und nicht willkürlich erscheint, insbesondere eine nicht-medizinische Verwendung des Produkts ohne weiteres denkbar ist, kann der Hersteller demnach den Anwendungsbereich eines Produkts, das an sich so-wohl medizinischen als auch nicht-medizinischen Zwecken dienen könnte, auf den nicht-medizinischen Bereich beschränken.
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Hiervon ist auch das Berufungsgericht ausgegangenen. Es hat ange-nommen, dass sich das Angebot der Beklagten nicht an das einfache Klinikper-sonal, sondern an den in der Forschung tätigen Wissenschaftler richtet, der über Kenntnisse auf dem Gebiet der (menschlichen) Elektrophysiologie verfügt. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass die Anschaffung derartiger Geräte häufig nicht durch Wissenschaftler, sondern durch andere Mitarbeiter, erfolgt; erfahrungsgemäß werden derartige Systeme zumindest nicht ohne Rücksprache mit denjenigen Personen angeschafft werden, die sie anwenden sollen.
Das Berufungsgericht hat weiter angenommen, dass dieser Adressaten-kreis aufgrund der Kennzeichnung, der Gebrauchsanweisung sowie der Bewer-bung des Systems „ActiveTwo“ ohne weiteres erkennt, dass die Anwendung des Produkts ausschließlich auf die Beobachtung physiologischer Vorgänge beim Menschen außerhalb einer krankheitsoder gesundheitsbezogenen Verwen-dung beschränkt ist. Auch diese Feststellung lässt keinen Rechtsfehler erken-nen.
Die Verwendungsbeschränkung ist auch nicht willkürlich erfolgt. Es ist weder festgestellt noch sonst ersichtlich, dass die subjektive Zweckbestimmung der Beklagten wissenschaftlich unhaltbar oder widersprüchlich wäre. Mit Recht weist die Revisionserwiderung auf die – nicht angegriffene – Feststellung des Berufungsgerichts hin, der zufolge das System „ActiveTwo“ als solches für diag-nostische oder therapeutische Zwecke objektiv nicht geeignet ist; für einen diag-nostischen Einsatz wäre es zumindest erforderlich, dass ein Erwerber mit einem entsprechenden technischen Verständnis ein Konvertierungsprogramm installiert und zusätzlich Diagnoseprogramme Dritter einsetzt.
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III. Das Rechtsmittel der Klägerin ist danach mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Bornkamm Pokrant Schaffert
Kirchhoff Koch
Vorinstanzen:
LG Hamburg, Entscheidung vom 08.03.2005 – 407 O 223/04 –
OLG Hamburg, Entscheidung vom 26.02.2009 – 3 U 162/05 –